
Am Freitag übten die Wehren der Kernstadt sowie aller Stadtgebiete von Lindenfels gemeinsam im Rahmen einer Großübung den Ernstfall in einem Lindenfelser Seniorenheim.Der Blick aus dem vierten Stock hinunter in den Hof ist schwindelerregend. Ein schmaler Steg führt von der Fensterbank des kleinen Appartements hinüber zur Drehleiter. Im Korb steht freundlich lächelnd Feuerwehrmann Rainer Fink und versucht mich dazu zu überreden, doch den kleinen Küchenraum hinter mir zu verlassen und zu ihm hinüber zu klettern.
Winfried Höly hat derweil den kleinen Steg in umgekehrter Richtung schon überwunden und legt mir bereits einen Sicherheitsgurt an. Zum Glück fällt mir noch rechtzeitig mein Auftrag ein, den ich vor einigen Minuten von Fink, der auch Stadtbrandinspektor ist, erhalten hatte.
Doch der Reihe nach, denn solch einen Einsatz erleben auch Berichterstatter vom Bergsträßer Anzeiger selten. "Gemeinsame Übung der Lindenfelser Feuerwehren" stand auf dem Kalender am Freitagabend, ein Termin, der wichtig ist, weil das Zusammenspiel der Feuerwehren aus den Stadtteilen geübt wird.
Als Übungsobjekt wurde das Pflegewerk der Christian Science im Lindenfelser Kamsbachweg bestimmt. Das Haus verfügt über mehrere Etagen und Wohneinheiten, und wie Stadtbrandinspektor Fink erklärte, wurde ein Brand im Keller angenommen, der durch eine Explosion von Farben entstanden sei.
Es werden mehrere Personen im verrauchten Keller vermisst, und natürlich geht es um Minuten, als es kurz vor 18 Uhr mit der idyllischen Ruhe im Burgstädtchen vorbei ist. Sirenenalarm lässt die Nachbarschaft zusammenlaufen und dann sind auch schon die ersten Einsatzfahrzeuge im engen Kamsbachweg angekommen.
600 Meter Schläuche verlegtAlleine die Wasserversorgung bedeutete eine große Herausforderung für die Einsatzkräfte, die etwa 600 Meter Schlauchverbindungen vom höher gelegenen Seniorenheim Parkhöhe und deren großer Zisterne querfeldein zum Erholungsheim im Kamsbachweg verlegten. Und so dirigierte Einsatzleiter Jürgen Bitsch - neuer stellvertretender Stadtbrandinspektor von Lindenfels - souverän seine Truppen aus der Kernstadt und allen Stadtteilen.
Aus Reichelsheim waren ebenfalls zwei Fahrzeuge nach Lindenfels gekommen, und deren Atemschutzgeräteträger wurden auch sofort eingesetzt. Seit Jahren schon arbeiten die Feuerwehren gemeindeübergreifend zusammen, da Unglücke nicht nur dann geschehen, wenn alle Einsatzkräfte zu Hause sitzen, sondern auch, wenn Feuerwehrleute von Berufs wegen nicht in der Stadt sind.
Während die Menschenrettung aus den Kellerräumen schnell gelingt, fährt der Stadtbrandinspektor mit mir in den vierten Stock und erklärt meinen Einsatz: "Du bis jetzt 90 Jahre alt, gebrechlich, gehbehindert und in Panik geraten. Vor lauter Angst wolltest du einen Schrank vor die Tür schieben, dieser ist aber umgekippt und hat sich hinter einem Pfosten verkeilt. Die Eingangstür zu deinem Appartement geht also nicht auf - du wirst über die Drehleiter gerettet".
Das Szenario ist täglicher Ernstfall: Menschen, ob alt oder jung, geraten in Panik, verbarrikadieren die Türen oder verstecken sich und machen den Einsatzkräften damit das Leben schwer. Und dann gibt es auch noch solche wie mich, die sich schlichtweg nicht trauen, die kleine Klettertour in die Drehleiter - wenn auch gut gesichert - auf sich zu nehmen. Da hilft alles Zureden nicht, aber zum Glück besinne ich mich auf die Finksche Vorgabe: "gehbehindert und alt". Also werde ich mit der Trage abgeseilt. Die Leiter wird hinuntergefahren und mit einer Trage versehen, dann fährt die Drehleiter erneut bis in den vierten Stock. Die beiden Feuerwehrmänner haben nun Verstärkung von den Schlierbacher Brandschützern mitgebracht und lassen auch nicht mehr mit sich handeln. Schließlich haben sie einen Auftrag zu erfüllen.
Binnen Sekunden zur ErdeDann geht alles ganz schnell: Ich werde auf der Trage festgeschnallt, die wird aus dem Fenster gehoben und oben auf der Leiter befestigt. In wenigen Sekunden schweben wir der sicheren Erde entgegen.
Zwar war das ganze Spektakel nur eine Übung, die meine drei Feuerwehrmänner aber sehr ernst nahmen. Während des kompletten Prozedere reden sie beruhigend auf mich ein und würden das im Ernstfall genauso tun. Unten wartet schon ein Rettungsteam, um mich, noch immer festgeschnallt, aus der Gefahrenzone zu tragen. Eine bekannte Stimme erteilt Anweisungen: Beate Hoeppner aus Schlierbach, eine der sieben Feuerwehrfrauen im Einsatz, ist für die Betreuung der Verletzten und Geretteten zuständig und verblüfft, wen sie da auf der Trage betreut.
Insgesamt waren 79 Einsatzkräfte mit 15 Fahrzeugen bei der Großübung dabei. Dazu kamen noch die Mitglieder der Feuerwehr aus Reichelsheim. Otto Schneider, der als Erster Stadtrat die Übung beobachtete, sagte er sei zwar kein Fachmann, fühle sich aber mit der Lindenfelser Feuerwehr sehr sicher.
(Bergsträßer Anzeiger 12. September 2011)